Afternoon in our Zurich


Zürich gezeigt durch den Blick von geflüchteten Menschen






Auf dem Steg sitzend und zitternd, recken wir das Gesicht der Sonne entgegen. Die gedämpfte Herbstsonne wärmt uns, nach einem erfrischenden Sprung ins Wasser. Die Füsse baumeln über dem Wasser, das noch schöner glitzert als im Sommer. Davor ein angeregtes Volleyballspiel mit hoch, manchmal ins Out fliegenden Bällen, das den Nachmittag abgerundet hat. Ich verspüre Unbeschwertheit und vergesse kurz die Geschichten und Kontexte, die mich zu diesem Nachmittag brachten. Eine Gruppe junger Menschen, am Letten badend, mit einer scheinbaren Normalität in ihren Leben, doch die seriell gleichen Unterhosen lassen erahnen, dass sie striktere Regeln zu befolgen haben, und nicht frei ihre individuellen Bedürfnisse ausdrücken können.





Wir laufen alle der Limmat entlang zurück bis auf Höhe des Toni-Areals. Ich verabschiede mich von der Gruppe und laufe in das eminente, hochragende Toni hinein, die restlichen Menschen dieser Ausflugsgruppe warten auf den einschneidenden Ton, der sie ins Bundesasylzentrum hineinlässt. Wir spüren die Unterschiede, für die wir nichts können.

Die Menschen der Gruppe sind geflüchtet und beantragen Asyl oder sie erhielten bereits einen Status. Die Idee des Nachmittags ist ein Versuch, gegenseitig in Kontakt zu treten. Die Umgebungen erkunden, in Form eines Foto-Tour-Spaziergangs. Wir, 6 Wegwerfkameras und eine Gruppe von etwa 12 Menschen, schlendern durch den Kreis 5. Alle Fotos wurden von Menschen mit Migrationsgeschichte geschossen. Sie zeigen ihre Perspektive, ihren Fokus beim Spazieren und wie unterschiedlich, je nach Situation, eine Stadt wahrgenommen werden kann.

Eine Gruppe holte ich direkt im Bundesasylzentrum ab. Am Mittag haben wir kurz Werbung gemacht, danach waren kurzerhand einige Leute motiviert, mitzumachen. Die Gruppe versammelte sich im Innenhof, was noch mehr Menschen neugierig machte. Bis alle parat, und nachdem alle Ausweise eingesammelt waren und wir die beim Sicherheitscheck abgeben konnten, gingen wir los. Dabei waren vor allem junge, minderjährige, männlich-gelesene Personen, die laut Auskunft oftmals allein vorgeschickt werden, um später die Familie in das Ankunftsland nachzuholen. Sie werden als UMA bezeichnet, also unbegleitete Kinder im Asylverfahren. Die analoge Wegwerfkamera war schnell erklärt und es knipsten alle wild drauf los.



Wir liefen Richtung Schiffbau, wo noch weitere Menschen warteten, die unter anderem von der autonomen Schule kamen. Leider war es ein bisschen chaotisch, weshalb ich nicht auf alle gleich eingehen konnte. Wir liefen los Richtung Zentralwäscherei, Josefswiese, Röntgenplatz, Langstrasse und dann zum Letten. Einige Leute aus der Ukraine und eine Gruppe an Menschen, die spanisch sprachen, lösten sich bald. Dann waren wir noch eine kleinere Gruppe, mit Leuten, die fast alle aus dem Bundesasylzentrum waren.

Eine Situation blieb mir hängen, als wir entschieden, ob wir Richtung Bahnhof oder Letten gehen möchten. Eine Person übersetzte mir mit Google Translate, dass sie zum Meer aufs Boot möchten. Ich schluckte leer und realisierte, dass sie wohl den Zürichsee meinten. Ich spürte auch eine gewisse Anspannung, als die Polizei mehrmals, auch während dem Volleyballspiel, an uns vorbeifuhr.




“You no yesterday and today has been the best day for me since I enter Switzerland

Because of the time and interaction

That really made my days.“ 


- Person that participated



Trotz Sprachbarriere braucht es nicht viel, um solche Räume der Teilhabe zu ermöglichen. Kurz wieder mal seiner eigenen Privilegien bewusst zu werden, mich zu fragen, ob ich die teilen, wenn nicht sogar teilweise abgeben kann. Ich wünschte mir, dass mehr Schweizer*innen den Kontakt suchen und realisieren, wie wichtig «Alltäglichkeits»-Gefühle für geflüchtete Menschen sein können. Sich solidarisch den geflüchteten Menschen gegenüber zu verhalten und aktiv Menschen deinen Raum und deine Zeit zu geben, kann individuell grosse Unterschiede machen, wenn das Gefühl entsteht, wahrgenommen, akzeptiert und ernst genommen zu werden.

Im Austausch, sagte mir eine Person, wie wertvoll es sei, einfach nur schon herauszugehen, zu spazieren, den Kopf zu befreien von allen Ängsten. An etwas anderes denken, neue Eindrücke zu sammeln und nicht in eine Spirale im Kopf zu fallen. Vor allem auch den Asylzentren zu entkommen. Die Energien, die sich dort auf extrem engem Raum anstauen, sind eine psychische Belastung. Die Person erzählt mir auch von den klaren Unterschieden zwischen den Asylzentren, wenn eine Person versetzt wird. Von Embrach hatte die Person sehr positiv gestimmt erzählt, während es in Brugg AG nicht erträglich wäre.



Auf individueller, wie auch auf demokratischer, auf politischer Ebene müssen sich die Missstände und die strukturelle Gewalt, die in den Gesetzen zementiert ist, verändern. Aber die Wahlen am 22. Oktober lassen einen anderen Geist von rechts, von bürgerlichen, wirtschaftsorientierten Seiten durchscheinen und beunruhigen mich sehr. Verschärfte Migrationspolitik hat bei einigen Parteien hohe Priorität, um unseren Schweizer Wohlstand und unsere Sicherheit zu wahren und in keinem Fall die Einwanderungsrealität anerkennen. Das Hauptnarrativ der SVP ist Sicherheit. Was nach der Pandemie und mit den jetzigen Kriegen viele Menschen anspricht. Die SVP wirft mit populistischen, simplistischen, irrationalen Emotionen, Gefahren, absolut dystopischen Bedrohungs-Szenarien um sich; „10 Milllionen Schweiz und Asylchaos.“  Sie wollen zurück dahin, wie „die Schweiz immer schon war“, und bestärken das „Wir-Gefühl“. Weil „Wir“ Angst haben vor den anderen da draussen. Die SVP stellt das Innen und Aussen drastisch gegeneinander. Mit Feindbildern soll Wut geschürt werden.

Flüchtlinge werden in politischen Debatten und in bestimmten Medien auf Unmenschen reduziert, die NZZ schreibt: „Denn wenn die Mütter und Ehefrauen ihre Söhne und Gatten zu sich in die Schweiz holen könnten, erhöhe sich nicht nur der Druck auf das Asyl- und Sozialsystem, sondern im Fall von Afghanistan auch die potenzielle Terrorgefahr.“

Aber wir sind momentan in keiner gefährlichen Lage und deswegen sagte Elisabeth Baume-Schneider: «Systematische Kontrollen an den Binnengrenzen dürfen nur eingeführt werden, wenn eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit vorliegt. In einer solchen Situation sind wir nicht.»

Die Thematik ist vielschichtiger und komplexer, als dass wir ernsthaft nur „schwarz-weiss“ denken könnten. Es ist leider der einfachere Weg, und deswegen funktioniert es.

Im Aargau schrieb eine Person auf den Werbungszettel diese politischen Ziele: «Asylunwesen; Asylanten an der Grenze stoppen. Unterbringung in Industriebrachen/Containern am Dorfrand. Familiennachzug blockieren, kein Verteilschlüssel mit EU.»



Für Menschen, welche traumatische Geschichten und gefährliche Fluchten erlebt haben und hier ankommen, in der Hoffnung auf Neuanfänge, dann aber abgeschoben und an den Rand gedrängt werden. Wir sollten auf die „bestehenden 9000 Zivilschutzanlagen“ zurückgreifen, die sich zum Teil in unterirdischen Bunkern befinden. Ist das ein menschenwürdiges Dasein?

„Statt auf temporäre Hilfsmassnahmen wie Container-Dörfer in Militäranlagen zu setzen, solle der Bundesrat erst seine Planungsarbeit erledigen“, schrieb die NZZ.
Leider warten die Krisen nicht auf den Bundesrat und die ewigen Hürden des Parlaments. Migration passiert und es muss jetzt Unterkünfte und Lösungen geben.

Auch die Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider wird kritisiert. Sie wird für menschenwürdige Aussagen in der NZZ kritisiert, weil sie sagte: «Wir können die Menschen nicht einfach irgendwo deponieren». Die NZZ meint hier: „Sie wirkt mehr wie die Erste Sozialarbeiterin im Staat als ein Mitglied der Landesregierung.“ Ich bin froh, wenn mit Menschen gesprochen wird, die auch mit geflüchteten Menschen zusammenarbeiten. Der direkte, gleichwertige Austausch wird nämlich kaum gesucht. Migration sollte nie ein einseitiger Prozess sein und bleiben.



Menschen bringen ihre Kulturen, Traditionen, ihr Wissen, ihre Erziehung, ihre Wünsche und auch ihre Träume und Sorgen mit. Migration ist ein Sprung ins Ungewisse und bedeutet sich ständig konfrontieren zu müssen. Das Wort Integration ist konnotiert mit Erwartungshaltungen und einem Druck der Gesellschaft, sich zu assimilieren. Menschen sind aber Subjekte und nicht zu integrierende Objekte.



Manchmal frage ich mich auch, woran sich die Menschen spezifisch in der Schweiz anpassen sollen. An Verschlossenheit, verhaltene Höflichkeit und die ach so wichtige Pünktlichkeit? Vor allem hat sich das Land immer schon verändert, und es gibt schon lange keinen traditionellen Kern mehr, an dem wir uns festklammern müssen. Es wird zeit, dass die Schweizer Gesellschaft an diesem Punkt ihre kulturellen Vorstellungen hinterfragt.

Jede Person soll selbst entscheiden dürfen, wie viel von einer neuen Kultur sie persönlich adaptieren, mit ihrer vermischen, erlernen oder ablehnen möchte. Auch wie viel Präsenz den mitgebrachten Erfahrungen zukommen soll.



Was wäre, wenn Integration Entwicklung, Wachsen, Reflektieren, Offenheit und gegenseitige Bereicherung bedeuten würde? Was wäre, wenn Integration ein Prozess des gegenseitigen kollektiven Lernens ist, mit einer offenen Fehlerkultur, der Begleitung von Migrant:innen und der Lust, zusammen zu lernen und für alle Safer Spaces im Aufnahmeland zu schaffen.



Vielleicht können wir es auch eher Partizipation anstatt Integration nennen, weil wir schlussendlich nur zusammen vorwärtskommen. Wir sollten ein interkulturelles Denken fördern, was uns alle bereichert und unseren eigenen «Schweizer» Horizont um Meilen erweitert. Denn alle Migrant*innen bringen einen Rucksack mit ganz individuellen und persönlichen Geschichten, Werten und Erfahrungen mit. Lernen wir unsere Widersprüche, Unterschiede und Gemeinsamkeiten kennen. Wörter wie Zusammenhalt stärken, Gemeinsinn, Zugehörigkeit, Mitgliedschaften, Verbundenheit sollten unser Vokabular prägen.





Bei allen Fotos wurde mit Absicht kein Gesicht gezeigt und es werden keine Namen erwähnt. Die Menschen haben sich mit Freude gegenseitig fotografiert oder Selfies gemacht. Wegen limiterter Zeit, konnte keine Einwilligung mehr geholt werden. Ich bin sehr dankbar für die wertvollen Begnungen und Momente. 
Ich danke den anonymen Fotograf*innen.

Inspirert wurde die Arbeit von der Arbeit «i saw the air fly” von
Sirkhane DARKROOM


Contributor JOANA FELICIA HIRT