Dihei


Ein Quartier am Rande der Stadt






Es ist 7.30 Uhr an einem Freitagmorgen im Oktober 2023. Im Halbdunkel steigen wir aus dem Tram Nummer 11 an der Endstation: Auzelg. Es ist ruhig und ein bisschen kühl, die ersten Sonnenstrahlen scheinen durch die herbstlich gelben, raschelnden Blätter. Wir steigen die Treppen des provisorischen Container Gebäudes hinauf und öffnen die Tür. Eine freundliche Stimme ruft uns einen schönen guten Morgen zu. Es ist Susanna Gabathuler, die Lehrerin der zweiten Klasse im Schulhaus Auzelg. Seit fast 20 Jahren arbeitet sie hier und nimmt es spürbar gelassen, dass wir spontan am heutigen Morgen die Schulstunde mit unserem eigenen Programm aufmischen werden.

Das provisorische Schulzimmer befindet sich im zweiten Stock und ist mit persönlichen Arbeiten der Kinder geschmückt. Die ersten trudeln ein. Sie sind neugierig und wollen wissen, wer wir, die zwei Fremden, sind. Wir stellen uns, sowie einen von unserem ‘Dihei’ mitgebrachten Gegenstand, zu Beginn der Stunde vor.

Die Kinder werden von uns eingeladen, ihr ‚Dihei’ zu basteln, malen, zeichnen oder mit eigenen Worten zu beschreiben. Aus dem zuvor aufgeräumten Schulzimmer wird in kürzester Zeit ein farbiges Durcheinander.

In dieser 2. Klasse gibt es ausschliesslich Kinder mit Migrationshintergrund, erzählt uns Susanna. Nur eines der insgesamt 16 Kinder hat Schweizerdeutsch als Erstsprache.

Uns treibt die Frage an, wie sich die Migrationsgeschichten der Kinder auf das Gefühl des „Zuhause seins“ einwirken. Wo fühlen sie sich zuhause? Was macht ihr zuhause aus? Gibt es noch weitere Orte, an denen sie sich zuhause fühlen?


In den darauffolgenden Stunden sprechen wir mit jeweils zwei Schulkindern. Teilweise zurückhaltend, manchmal sehr offen und erzählfreudig plaudern sie über ihre Möbel und Kuscheldecken, innerfamiliären Beziehungen, Haustiere, Wandfarben, Lieblingsessen, Heimatländer, Fussballmatches, Ferien, Hochzeiten…

Einerseits erzählen sie uns viele alltägliche, lustige Geschichten aus ihren Familien, aus der Schule oder aus ihren Heimatländern.
Immer wieder jedoch blitzt durch, was Susanna uns kurz vor Beginn des Unterrichts erzählt hat: In der Gegend gibt es auch Probleme und einige Familien würden nicht hier wohnen, wenn sie eine Wahl hätten.

In den Medien werden Aussagen wie: „Auzelg – fast wie in New York“ oder „Wie aus einem «Ghetto» Heimat wird“ gemacht. Ein Kind erzählt uns, immer wenn sich im Quartier etwas Unschönes ereignet, sage die Mutter zynisch: ‘Willkommen im Auzelg!’.

Das Quartier liegt in Schwamendingen, an der Grenze zur Oerlikon, am äussersten Rand der Stadt. Der Name basiert auf den früheren, in der Au angelegten Feldern, die nach dem Prinzip der Dreifelderwirtschaft genutzt wurden.

1941 wurden die vom Architekten Georg Seger geplanten Häuser mit grossen Gärten zur Selbstversorgung für Menschen mit geringem Einkommen und kinderreichen Familien zur Verfügung gestellt. Insgesamt 17 zweistöckige Häuser mit angegliedertem Schopf und 1500 Quadratmetern Grünfläche wurden erbaut.

Der Stadtrat erhoffte sich damals ein angenehmes Leben für die eben erwähnte Zielgruppe – offensichtlich inkludierte diese Hoffnung eine Trennung vom Rest der Stadt.

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges dominierte in der Stadt Zürich die Wohnungsnot, vor allem für Familien mit vielen Kindern waren Neubauten finanziell nicht tragbar. Deshalb wurde unnahe dieser Siedlung, von 1952 bis 1954 eine neue Siedlung mit dem Namen Au erbaut.

Inspiriert von den sozial fortschrittlichen nordischen Ländern wie Finnland, Dänemark und Schweden wurden an der Opfikonstrasse, die durch das ganze Quartier führt, weitere 120 Reihenhäuschen erbaut.

Von aussen machen die roten, „schwedisch“ anmutenden Häuschen auf uns einen idyllischen Eindruck. Obwohl sie architektonisch alle gleich aussehen, erkennen wir auf den Sitzplätzen die Individualität der Bewohnenden. Kleintiere, Gartenmöbel und Textilien beleben die Wohnsiedlung.

Um ein Eigenheim in Auzelg mieten zu dürfen, mussten mindestens drei Kinder in der Familie aufwachsen und der Wohnsitz schon seit einigen Jahren in Zürich vorweisbar sein. Einerseits ging hier für viele der Traum vom Eigenheim in Erfüllung. Anderseits deutete der damals entstandene Übername ‘*N-Wort*-Dörfli’ auf die isolierte Randlage und die Bewohnenden hin, welche mehrheitlich wenig Einkünfte, dafür meistens viele Kinder hatten.

2004 wurde die Seger Siedlung renoviert. Im selben Jahr schrieben Georgio von Arb, Daniel Kurz und Stefan Keller das Buch ‘Kinderreich Au’ in dem die Siedlung sowie dort wohnende Familien portraitiert wurden. Beim durchblättern des von Susanna ausgeliehenen Buchs finden wir eine von ihr handgeschriebene Notiz:

„Das Buch wurde 2004 gemacht. Die Siedlung wurde dann renoviert und viele Familien zogen weg, weil die Vorgaben der Stiftung strenger wurden. Der Anteil der Bewohnenden mit Migrationshintergrund ist gestiegen. Lieber Gruss, Susanna.“


Wir klappen den Buchdeckel zu, verabschieden uns und setzen uns wieder ins Tram Nummer 11. In Gedanken lassen wir den heutigen Morgen Revue passieren. Die erste Station in Richtung Zürich: Das Fernsehstudio — was für ein Kontrast — hochgebaute breite Betonhäuser, künstlich hergerichtete Grünbereiche, Springbrunnen, Restaurants in der höheren Preislage, und Auzelg nur durch eine Tramstation und einen Fluss getrennt. 

Mit jedem weiteren Tram-Stop Richtung Zürich Hauptbahnhof wird uns immer mehr bewusst, dass wir heute morgen nicht nur Kinder mit Geschichten, sondern ein ganzes Quartier, einen gefühlten Mikrokosmos am Stadtrand auffinden und entdecken durften.


* Ein herzliches Dankeschön an Susanna für das Vertrauen und für das zur Verfügung stellen der Malereien und Zeichnungen der Kindern. Danke an alle Kinder für den Austausch.

Alle Schwarzweiss Fotos sind vom Buch ‘Kinderreich Au’, geschrieben von Daniel Kurz und Stefan Keller, fotografiert von Giorgio von Arb, entnommen worden (KONTRAST Verlag, 2004).



Contributors JULIA HAAS, FABIENNE INHELDER