When seen differently


Del Piero – für viele Menschen der Nachname eines pensionierten Fussballspielers. Für mich fast schon ein Synonym meiner Jugend. Juventus Turin – für die meisten Menschen ein Fussballverein, war für mich über lange Zeit das intensivste Gefühl von Zugehörigkeit.

Als Kind italienischer Einwanderer habe ich bereits im zarten Alter von fünf Jahren erlebt, was es bedeutet, in meinem eigenen Geburtsland als Fremder betrachtet zu werden. Das «Weidle», ein wunderbar vielfältiges Viertel in der östlichen Schweizer Äbtestadt Wil, war mein Zuhause, in dem ich aufwuchs. In Wil, das im Vergleich zu anderen Schweizer Städte einen signifikanten Anteil an ausländischen Bewohner:innen hat, waren nur wenige schweizerische Kinder in unserem Quartier zu finden, und ich konnte sie an einer Hand abzählen: Simon, Marc und Sara. Am Rande des Viertels befand sich ein charmantes, offenes Fussballfeld, auf dem sich viele Kinder und Jugendliche regelmässig trafen. Aus dieser Zeit verbinde ich viele schöne Erinnerungen. Hier eine persönliche Geschichte.

An einem Wochentag nach der Schule schlüpfe ich in mein schwarz-weiss gestreiftes Fussballtrikot. Auf dem Rücken prangt stolz die Trikotnummer 10 und der Name «Del Piero». Am Eingang unseres Wohnblocks, treffe ich mich mit meinem Freund Gzim. Gemeinsam durchqueren wir die Wohnblockreihen, um das Fussballfeld zu erreichen. Ein Hügel auf der Wiese trennt das Spielfeld von den letzten beiden Wohnblocks des Weidles. Wäre dieser Hügel nicht, wären die Gärten der Erdgeschosswohnungen direkt mit dem grossen Feld verbunden. Nach einem fünfminütigen Spaziergang erreichen wir das Spielfeld und stossen auf Imer und Simon, die bereits auf dem Platz stehen. Es dauert nicht lange, bis unsere Gruppe grösser wird. Wir teilen uns in zwei Teams auf und beginnen ein Spiel. Immer mehr Kinder schliessen sich nach und nach an. Beinahe alle tragen Fussballtrikots, oft aus ihrer Heimatnation oder einem Verein, der mit ihrer familiären Herkunft verbunden ist. Meine Lieblingsposition ist im Angriff, genau wie die von Del Piero. Natürlich versuchen wir, unsere Idole auf dem Spielfeld nachzuahmen. Das sollte der Anfang einer langen Geschichte werden, die unsere Identität prägt. Denn selbst wenn wir es noch nicht vollständig erkennen, wird das Thema weit über den Sport hinaus reichen. Als die Kirchenglocke 18:00 Uhr schlägt, verabschieden sich Simon und Marc. Sie müssen nach Hause, immer zur gleichen Zeit, denn das ist die Uhrzeit, zu der in traditionellen Schweizer Familien das Abendessen serviert wird. Bei mir und meinen Freunden mit Migrationsgeschichte hingegen wird das Abendessen in der Regel erst zubereitet, wenn die älteren Geschwister gekocht haben oder die Eltern von der Spätschicht nach Hause kommen. Manchmal ist es 20:00 Uhr, manchmal sogar 21:00 Uhr. Solange uns unsere Eltern nicht am Spielfeld abholen oder bis nur noch einer von uns übrigbleibt, wird Fussball gespielt. Dieses Feld ist wie eine zweite Familie für uns. Als ich versuche, ein Dribbling im Stil von Del Piero gegen den Gegenspieler zu machen und auf das Tor zu schiessen, treffe ich den Ball genau neben das Tor, sodass er über den Hügel in den Garten einer der Parterre-Wohnungen fliegt. Ein lauter Knall gegen das Glas war zu hören. Zu zweit klettern wir den Hügel hinauf und sehen ein älteres Paar im Garten. Die Frau hält unseren Ball in der Hand und blickt uns finster an. Kaum stehen wir oben auf dem Hügel, hören wir sie ausrufen: «Es ist keine Zeit mehr für euch Kinder, um draussen Fussball zu spielen. Habt ihr etwa kein Zuhause? Und wo sind eure Eltern? Es ist unverschämt zu dieser Zeit. Ihr Ausländer geht mir sowieso schon lange auf die Nerven.» Mit dem Ball in der Hand öffnen sie ihre Balkontür und nehmen ihn mit hinein. Wir sind eingeschüchtert und verstehen nicht genau, was wir ihnen angetan hatten und warum sie so auf uns losgingen. Diese Situation wird sich in Zukunft noch einige Male wiederholen und uns klar machen, dass der Grund dafür die Herkunft unserer Eltern ist.

Die Jahre verstrichen, und wir wurden alle älter. Für Kinder wie mich entwickelte sich der Fussballplatz zu einem Ort, an dem man einfach man selbst sein konnte: laut, motiviert und voller Energie. Mit der Zeit identifizierten wir uns nicht nur auf dem Spielfeld mit Fussballspielern. Mit zunehmendem Alter erkannten wir, dass viele dieser Stars im Fernsehen eine ähnliche Geschichte wie unsere hatten. Nicht nur in der Schweizer Nationalmannschaft gibt es Spieler mit Migrationsgeschichte. Es gibt zahlreiche Beispiele, wie Zlatan Ibrahimović, der ein schwedischer Nationalspieler ist, aber serbische Wurzeln hat und aus einer Arbeiterfamilie stammt. Ein Trikot mit dem Namen eines solchen Spielers zu tragen, bedeutete weit mehr als nur Sympathie für ihn oder seinen Verein. Es stand für Hoffnung in ausweglosen Situationen, für das Gefühl des Verstanden Werdens, ohne viele Worte zu verlieren. Es bedeutete, dass man in einer Gesellschaft dazugehörte, die oft dazu neigte, Menschen aufgrund ihrer Lebensumstände auszuschliessen. Umso frustrierender war es, als es hiess, dass das Tragen von Sportbekleidung in der Schule unangemessen sei und nicht den guten Sitten des Landes entspräche. Die Botschaft war eindeutig: Wir waren anders, nicht wie Severin oder Philipp, und sollten uns besser integrieren. Dabei waren wir die unschuldigen Bedürftigen, die in der Schweiz kein Zuhause fanden. Empathie schien Mangelware zu sein.

Es ist eine Herausforderung, diese Emotionen in Worte zu fassen. Schon früh erkannte ich, dass Worte nicht die einzige Art und Weise sind, um Botschaften zu übermitteln. Die Blicke, die einem zugeworfen werden, wenn man nicht in das vorherrschende Bild passt, sind oft lauter als jedes ausgesprochene Wort. Mit der Zeit habe ich gelernt, die subtilen Hinweise in Räumen zu lesen. Dennoch bleibt die belastende Wahrnehmung alltäglicher Situationen, die schwer greifbar sind, schwer zu beschreiben. Vorurteile und Stereotypen lassen mich täglich spüren, wie Äusseres oder die Wahl der Kleidung, wie beispielsweise das Tragen eines Fussballtrikots in bestimmten Kontexten, zu einer Schubladisierung führen. Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Wahrnehmung ändert, je nachdem, ob man ein Fussballtrikot mit Jogginghosen und einer Gucci Seitentasche kombiniert oder mit einer Jeans aus dem Brockenhaus und einem Foulard. Der eine Stil wird belächelt, beinahe ausgelacht, während der andere als modisch angesehen wird.

Ich frage mich, ob es ein Zufall ist, dass Gottfried Keller, der Autor der Novelle «Kleider machen Leute», ein Schweizer war. Sicher ist, seine Novelle offenbart selbst 150 Jahre nach ihrem Erscheinen, immer noch etwas über die Mentalität der schweizerischen Gesellschaft.

Der Autor
Davide aka Korona L’avadia is a kid of immigrants creating creative concepts. He lives in Zurich.

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Contributor DAVIDE IOZZO